Nachdem am Montag der Landesverfassungsgerichtshof von Baden-Württemberg im Sinne des Innenministeriums entschieden und das Volksbegehren für gebührenfreie Kitas für unzulässig erklärt hat, fordert nun Mehr Demokratie e.V. eine Überarbeitung der Regelungen für direktdemokratische Mitwirkung auf Landesebene in Baden-Württemberg. Auch die Erfahrungen mit dem Volksbegehren Artenschutz und dem entsprechenden Volksantrag hätten gravierende Mängel bei den gesetzlichen Regelungen für direkte Demokratie auf Landesebene in Baden-Württemberg aufgezeigt. Dabei gehe es nicht darum, ob jemand das jeweilige Sachanliegen befürworte oder ablehne oder ob direktdemokratische Mitwirkung grundsätzlich befürwortet oder mit Skepsis gesehen werde. Vielmehr lägen einige handwerkliche Fehler in den gesetzlichen Regelungen zu Volksbegehren auf Landesebene vor, die unnötig Rechtsunsicherheit erzeugten oder sich als praxisuntauglich und weltfremd erwiesen hätten. Diese Bilanz müsse man fünf Jahre nach der Reform der Volksgesetzgebung in Baden-Württemberg im Jahr 2015 leider ziehen. Man dürfe dem nicht durch schönfärberische Reden ausweichen, sondern müsse lernfähig und reformfähig bleiben. Mehr Demokratie e.V. kündigte dazu einen eigenen Gesetzentwurf noch vor der Sommerpause an, der – falls der Landtag darauf nicht reagiere – ggf. auch selbst als Antrag auf Volksbegehren oder Volksantrag eingebracht werden könnte.
Zum Urteil des Landesverfassungsgerichtshofs erklärte heute in Stuttgart der Landesvorsitzende von Mehr Demokratie e.V. in Baden-Württemberg, Edgar Wunder:
• „Der Landesverfassungsgerichtshof hat mit seinen neu eingeführten hohen rechtlichen Hürden an die sogenannte Bestimmtheit eines Volksbegehrens eine zukünftige direktdemokratische Praxis in Baden-Württemberg erheblich erschwert. Faktisch wird nun gefordert, dass ein Volksbegehren bis in den Begründungstext und in kleinste Details hinein abschließende Regelungen zu allen auch nur denkbaren Auswirkungen enthalten müsse. Würde man diese hohen Maßstäbe auch an Gesetzentwürfe anliegen, die aus Ministerien kommen, wären schätzungsweise zwei Drittel davon ebenfalls unzulässig. Es ist eine Doppelmoral, von Volksbegehren hier mehr zu fordern als von Landtagsfraktionen oder Ministerien. Der Landesverfassungsgerichtshof hat auch sich selbst mit dieser restriktiven Rechtsprechung einen Bärendienst erwiesen, denn er wird dadurch in Zukunft noch viel Arbeit bekommen. Es ist zu befürchten, dass nun bei so gut wie jedem Volksbegehren zunächst der Landesverfassungsgerichtshof angerufen wird, um es durch Detailkritik an der Begründung und der Bestimmtheit zu Fall zu bringen.“
An den Landtag als Landesgesetzgeber richtete Wunder u.a. folgende Forderungen für eine Überarbeitung der gesetzlichen Regelungen zu Volksbegehren:
• „Kein Gesetzentwurf – egal von wem – ist so gut, dass er nicht noch verbessert werden könnte oder in Details eine Nachbesserung nicht sinnvoll und sogar notwendig wäre. Deshalb kann das nicht nur für das übliche parlamentarische Verfahren gelten, sondern es muss auch für Volksbegehren ermöglicht werden. Das Bundesland Hamburg kennt eine solche Regelung. Dort können Volksbegehren – unter Beibehaltung ihres Kerngehalts – durch Erklärung der Vertrauenspersonen noch weiterentwickelt und modifiziert werden, wenn dies rechtlich erforderlich oder nach einer parlamentarischen Beratung als sinnvoll erscheint. Das eröffnet auch sinnvolle Kompromissmöglichkeiten und macht somit manche Volksabstimmung entbehrlich. Eine solche Regelung muss auch in Baden-Württemberg ermöglicht werden. Etwas anderes wäre widersinnig und führt nur zu endlosen Rechtsstreitigkeiten.“
• „Der Landesverfassungsgerichtshof hat sich zu einem der ursprünglich wesentlichen Streitpunkte zum Kita-Volksbegehren gar nicht geäußert. Nach wie vor steht schwebend im Raum, ob aufgrund des in der Landesverfassung für Volksbegehren ausgeschlossenen Gegenstands 'Staatshaushaltsgesetz' Volksbegehren ab bestimmten finanziellen Auswirkungen ausgeschlossen seien bzw. ab welchen dies der Fall ist. Es ist unschwer voraussehbar, dass dazu bei einem der nächsten Volksbegehren dieser Rechtsstreit erneut aufkommen wird. Letztlich handelt es sich hier aber um keine rechtliche, sondern eine politisch zu klärende Frage. Deshalb ist jetzt der Landtag als Landesgesetzgeber gefordert, dazu eine rechtlich eindeutige Klarstellung zu beschließen.“
• „Weil sich der Landesverfassungsgerichtshof mit seiner Urteilsbegründung beliebig Zeit lassen konnte, wurde in diesem Fall die Angelegenheit um mehr als ein volles Kalenderjahr hinausgezögert, während alle anderen Verfahrensbeteiligten an strenge und teilweise unrealistisch kurze Fristen gebunden sind; z.B. muss ein ausgearbeiteter Widerspruch gegen eine Unzulässigkeitserklärung des Innenministeriums durch die Vertrauenspersonen des Volksbegehrens binnen zwei Wochen eingelegt werden. So etwas kann bei dringenden politischen Fragen nicht angehen, denn faktisch wird dadurch die Möglichkeit eröffnet, durch ein langes Gerichtsverfahren ein eiliges Anliegen schon in der Sache auszubremsen und zu erledigen. Zu Recht sieht daher etwa die entsprechende Regelung in Bayern vor, dass der Landesverfassungsgerichtshof binnen drei Monaten entscheiden muss. Das ist auch für Baden-Württemberg sinnvoll und notwendig.“
• „Bei Volksanträgen und Volksbegehren stammt die Regelung, dass die Vertrauenspersonen des Volksantrags sämtliche Rathäuser in Baden-Württemberg mit Millionen von ausgedruckten Unterschriftsformularen auf eigene Kosten zu versorgen haben, aus den 70er Jahren, einer Zeit also, als es noch keine elektronisch übermittelbaren PDF-Dateien und allgegenwärtigen Drucker und Kopierer gab, mit denen nach Bedarf nur die vor Ort tatsächlich benötigte Zahl der Formulare erstellt werden kann. Hier ist die heute noch geltende baden-württembergische Regelung einfach vorsintflutlich, weil sie auch unter ökologischen Gesichtspunkten einen nicht nachvollziehbaren zusätzlichen Aufwand für die Vertrauenspersonen und – was die Abstimmungsprozesse betrifft – auch für die Rathäuser erzeugt.“
Mehr Demokratie e.V. hat über 30 verschiedene Punkte zusammengestellt, bei denen sich die gegenwärtigen Regelungen in Baden-Württemberg zu direktdemokratischen Erfahrungen auf Landesebene nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht bewährt haben und zu unnötigen Komplikationen oder Rechtsstreitigkeiten führten. Die Ursache dafür ist, dass diese Regelungen ganz überwiegend „am grünen Tisch“ und ohne Berücksichtigung von Praxiserfahrungen ersonnen wurden. Denn in Baden-Württemberg gab es bis jetzt noch kein einziges erfolgreiches Volksbegehren, das zu einer Volksabstimmung führte.
Mehr Demokratie e.V. kündigte an, noch vor der Sommerpause 2020 eine umfassende Darstellung mit einem ausgearbeiteten Gesetzentwurf vorzulegen, in welchen Punkten sich die baden-württembergischen Regelungen zu direktdemokratischen Instrumenten auf Landesebene als praxisuntauglich und reformbedürftig erwiesen hätten. Betroffen ist davon überwiegend nicht die Landesverfassung, sondern lediglich das ausführende Volksabstimmungsgesetz, so dass der Gesetzentwurf mit einfacher Mehrheit im Landtag beschlossen werden könnte.
„Sollte der Landtag daraufhin untätig bleiben, ist es nicht ausgeschlossen, dass wir zu diesem Gesetzentwurf selbst ein Volksbegehren oder einen Volksantrag initiieren, um die notwendigen Reformen auf diese Weise durchzusetzen“, erklärte Wunder.